was ist ein Entwicklungstrauma?
Inhalt:
Kindliche Entwicklung und Entwicklungstrauma
Die Sicht eines Menschen auf das was ist, unsere Wahrnehmung, ist erst einmal immer subjektiv, da sie immer durch unsere individuelle Vergangenheit, durch das was wir erlebt haben, also unsere Erfahrungen geprägt ist.
Das ist eine recht logische und verständliche Funktion unseres Nervensystems, wir orientieren uns an unseren Erfahrungen: In Wasser das raucht, greife ich besser nicht hinein, diese Erfahrung muss ich nur genau 1x machen. Von Menschen die wütend auf mich sind und zudem älter, größer und stärker als ich, halte ich mich besser fern, wenn ich mich nicht anders zu wehren weiß. Das sind Konzepte, die Sinn machen, will ich nicht ständig mit verbrühten Händen oder einem blauen Auge auf dem Schulhof herumlaufen.
Die Erfahrung mit dem heißen Wasser beizubehalten macht Sinn, auch wenn wir älter sind. Das Beispiel mit dem wütenden Menschen schon weniger. Aufgrund unserer Kindheitserfahrung als Erwachsener im Job vor unserem Arbeitskollegen oder in der Beziehung vor unserem Partner wegzulaufen, verursacht erheblichen Leidensdruck. Das ist es aber, was wir oftmals tun.
Je näher uns ein Mensch steht, und das ist zuerst einmal unsere Mutter und dann unser Vater, desto prägender sind negative Erfahrungen. Fühlen wir uns von unseren Eltern geliebt, wahrgenommen und gut aufgehoben, wird uns ein aggressiver Mitschüler nicht viel anhaben können. Wachsen wir aber in einem Elternhaus auf, das von Ignoranz, Lieblosigkeit und Kritik geprägt ist, werden alle negativen Einflüsse auf uns als Kind nur noch eine Bestätigung sein, das wir all das, was wir so dringend brauchen, nicht verdient haben und die Welt generell gegen uns ist.
Hierbei spricht man von einem Entwicklungstrauma
Ein Entwicklungstrauma, oder auch frühkindliches Trauma genannt, ist ein Trauma (also eine Verletzung), das in der Kindheit stattgefunden hat und in der Regel länger angedauert hat, meist über Jahre und sich dadurch auszeichnet, das es meistens unsere Persönlichkeit beeinflusst hat. Es ist oft unterbewusst und deshalb psychotherapeutisch schwer zugänglich. Von diesem soll hier die Rede sein.
Dagegen ist ein Akuttrauma z.B.: Ein Verkehrsunfall, ein Überfall, ein Einbruch… eine einmalige Situation. Es ist meist psychotherapeutisch gut zu behandeln.
Was haben alle Traumata gemein? Ein Trauma ist immer eine potentiell lebensgefährliche Situation.
Ein Erwachsener wird sicherlich mit der Situation, für einige Zeit allein zu sein, gut zurecht kommen. Für einen Säugling ist die Erfahrung zu schreien weil es Hunger hat oder Aufmerksamkeit braucht, eine Lebensbedrohliche. Es kann ja noch nichts allein und ist darauf angewiesen, umsorgt zu werden. Würde keine Bezugsperson kommen, müßte es sterben! Yod Udo Kolitscher hat es so beschrieben: Stell dir vor du hättest keine Sprache, keine Arme und keine Beine, bist also ganz auf deine Umwelt angewiesen. Dann weißt du in etwa, wie sich ein Säugling in so einer Situation fühlt.
Mangelnde Liebe
So gut wie jeder Mensch hat in seiner Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht. Wir sind allein gelassen worden, manipuliert worden, nicht ernst genommen worden usw. Hatten wir einen entsprechenden Ausgleich auf der Positivseite, ist es uns gelungen, diese Erfahrungen auf der Negativseite zu verarbeiten. War aber auf der Positivseite zu wenig und die traumatischen Erfahrungen zu massiv und langanhaltend, hatte das Auswirkungen auf unsere Psyche. Fast alle Entwicklungstrauma haben mit einem Mangel an echter Liebe und Aufmerksamkeit zu tun.
Der Psychologe HANS-JOACHIM MAAZ schreibt hierzu in seinem sehr empfehlenswerten Buch Die Liebesfalle, in dem es hauptsächlich um die schädigenden Auswirkungen von Trauma auf spätere Beziehungen geht: „Die ersten Beziehungserfahrungen prägen den Menschen ein Leben lang..( )…. Wer in der Kindheit keine Liebe erfahren hat, der wird sie im weiteren Leben fürchten wie die Pest. Jede liebevolle Zuwendung würde den Ungeliebten an seine tragische Geschichte von Bedrohung, Ablehnung, Verlassenheit und Unterdrückung erinnern, die er mühevoll verdrängen und verleugnen mußte, um überhaupt zu überleben.
Liebe ist für uns Menschen (und darüber hinaus auch viele höher entwickelte Tiere) überlebenswichtig, wie auch der Kaspar-Hauser-Versuch zeigte. Zu den umstrittensten Kaspar-Hauser-Versuchen zählen die Experimente von Harry Harlow mit jungen Rhesusaffen. Äffchen, die ohne Spielgefährten heranwuchsen, wirkten später oft ängstlicher als ihre Artgenossen, die mit Gleichaltrigen herangewachsen waren – und völlig isoliert aufgezogene Tiere waren später derart verhaltensgestört, dass sie oft zur Aufzucht eigener Jungen nicht mehr fähig waren. Noch grausamer: Als der deutsche König und römische Kaiser Friedrich II. Säuglinge versuchsweise auf Drahtmutter-Niveau betreuen ließ, starben alle binnen kurzer Zeit.
Nun ist der Mangel an Liebe in der Kindheit bei den meisten Menschen weniger rabiat ausgeprägt gewesen. Aber schon die früher (auch in meiner Kindheit) weit verbreitete Meinung „man müsse ein Kind mal schreien lassen, das kräftigt die Lungen und beugt Verzärtelung vor“ ist für ein Kind ein Trauma. Die Botschaft ist lebensbedrohlich: Wenn du Hunger hast, kommt Mama nicht, du wirst sterben.
Viele Erwachsene bringen Trauma gern mit körperlichen Gewalterfahrungen in Verbindung. Ohne diese relativieren zu wollen, ist Vernachlässigung und Ignoranz für Kinder oftmals schlimmer. Wenn ich geschlagen werde, ist da zumindest noch jemand, der sich auf eine negative Art für mich interessiert. Aus meiner eigenen Kindheit kann ich mich erinnern, das ein Freund von mir, wenn er eine schlechte Zensur mit nach Hause brachte, gern einmal eine Ohrfeige abbekam. Obwohl ich das nicht toll fand, war ich auf eine merkwürdige Weise neidisch auf ihn. Meine Eltern hat das nicht interessiert, so wie sie kaum etwas interessiert hat, was mit mir war.
Ein anderes Thema ist falsche Liebe. Falsche Liebe ist manipulativer Egoismus. Wenn z.B. eine Mutter ihr Kind als Beziehungsersatz mißbraucht. Die Botschaft ist: Ich brauche dich, ich liebe dich, ich gebe dir meine ganze Aufmerksamkeit, dies gilt aber nicht dem Kind als eigenständiges Subjekt, sondern den eigenen Bedürfnissen der Mutter nach Aufmerksamkeit und Liebe. Das Kind wird zum Projektionsobjekt der Mutter nach einem Beziehungspartner, der nicht vorhanden oder gewollt ist. Das Kind spürt, das es eigentlich nicht gemeint ist und entwickelt ein negatives Interpretationsbild von Liebe. Liebe ist schlecht und tut mir nicht gut. Oftmals ist die Folge eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.
Die Abwehr traumatischer Erlebnisse
Wo wir gerade beim Thema sind: Sigmund Freud hat das so beschrieben: Kinder, die nicht genug Aufmerksamkeit und Liebe bekommen, haben zwei Möglichkeiten der Abwehr. Eine depressiv/dependente Persönlichkeit zu entwickeln mit den Glaubenssätzen: Ich muss mich mehr bemühen, ich muss mich still verhalten, darf nicht auffallen, ich bin nichts wert. Oder eine narzisstische Persönlichkeit mit den Glaubenssätzen: Ich brauche euch nicht, ich bin besser, Gefühle verletzen mich nur, ich bin allmächtig. Je nach Ausprägung entwickelt der Erwachsene sich dann zumeist einem zurückhaltenden bis schwer depressiven Menschen oder einer dependenten Persönlichkeitsstörung, oder zu einem Egomanen bis hin zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung. (wobei es noch viele andere psychische Fluchtwege gibt).
Für welche Form der Abwehr sich ein Kind „entscheidet“ ist natürlich nicht bewußt. Hier sind sicher genetische Veranlagungen wirksam, in wie weit ist eine Position schon durch ein Geschwisterteil belegt und welche Formen der Abwehr habe ich von Bezugspersonen gelernt.
Dies ist eine sehr grobe Unterteilung und kann noch weiter aufgefächert werden, aber auch in anderen weiter unterteilten Systemen, wie z.b. dem Enneagramm oder den Körpertypen finden sich diese beiden Grundtypen wieder.
Traumafolgen
Entwicklungstrauma sind die Ursache aller Persönlichkeitsstörungen wie: Paranoide Persönlichkeitsstörung, Narzisstische Persönlichkeitsstörung, schizoide Persönlichkeitsstörung, historistische Persönlichkeitsstörung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typus), dissoziale Persönlichkeitsstörung, selbstunsichere Persönlichkeitsstörung und dependente Persönlichkeitsstörung.
Das heißt nicht, das ein Entwicklungstrauma gezwungenermaßen eine Persönlichkeitsstörung hervorruft, aber es kann so sein und je massiver das Entwicklungstrauma war, desto größer ist die Gefahr für ein Kind, eine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln.
In jedem Fall beeinflusst ein Entwicklungstrauma unsere Persönlichkeit, auch wenn es pathologisch gesehen noch keine Persönlichkeitsstörung ist:
Das was wir erfahren haben, beeinflusst unsere Reaktion auf unsere Umwelt, auf die Menschen mit denen wir interagieren. Ein Modell dieser Interaktionen ist z.B. das Enneagramm. Menschen werden hier in 9 Untertypen eingeteilt, die das Muster wiederspiegeln, mit der wir die Welt sehen und mit ihr in Kontakt treten. Oder das Körpertypenmodell: Hier werden Menschen in 5 Typen eingeteilt. Schizoid, Oral, Psychopathisch, Masochistisch und Rigide.
Die Auswirkungen eines Entwicklungstrauma können vielfältig sein:
Oftmals entwickeln Menschen mit einem Trauma süchtiges Verhalten. Alkohol, Nikotin, Tabletten, Sex, Liebes-/Beziehungssucht, Aufmerksamkeits-/Erfolgssucht usw. Das Suchtmittel dient dazu, mit dem alten Schmerz möglichst nicht in Kontakt zu kommen. Ein Beispiel von mir selber: Ich trinke eigentlich schon seit langem zu viel Alkohol. Wenn ich abends nach Hause komme und 2 Gläser Wein getrunken habe, breitet sich eine wohlige Entspannung in mir aus. Ich fühle mich zufrieden, entspannt und ausgeglichen. Nun habe ich meinen Konsum einmal kritisch hinterfragt und für einige Tage nichts getrunken. Nach einiger Zeit habe ich abends massive Magenkrämpfe bekommen. Ich habe das schon auf körperliche Entzugserscheinungen zurückgeführt, aber es haben alle anderen Symptome eines Alkoholentzugs gefehlt, deshalb habe ich versucht, der Sache mit Focusing auf den Grund zu gehen.
Focusing ist eine Methode, die sagt, das jedem Körpergefühl ein unterdrücktes seelisches Gefühl zugrunde liegt auf das uns unser Körper aufmerksam machen will. Bei mir kamen sehr schnell massive traumatische Szenen aus meiner Kindheit mit den entsprechenden Gefühlen zum Vorschein. Ich hatte bis dahin geglaubt, mir all dessen sehr bewußt zu sein. Was ich aber immer verdrängt habe, waren die Gefühle, die ich als Kind in den Situationen wirklich hatte. Eine tiefe Verzweiflung über das allein sein, missachtet zu werden, keine Liebe zu bekommen. Oftmals glauben wir, schon zu wissen, wie wir uns gefühlt haben. Oftmals sind das aber nur oberflächliche Betrachtungen unseres rationalen Denkens als Erwachsener.
Auch etwa immer in einer Beziehung sein zu müssen, ist ein süchtiges Verhalten. Du kennst sicher Menschen, die schon immer in einer Beziehung gelebt haben. Meistens ist der Partner auch immer parat, sie sind selten irgendwo allein anzutreffen. Und ist eine Beziehung einmal vorbei, haben sie sehr schnell Ersatz gefunden. Dies Verhalten dient dazu, den tief sitzenden Schmerz vor Einsamkeit nicht spüren zu müssen. Auch wenn die aktuelle Beziehung eigentlich nicht gut ist, ist das besser, als sich mit diesem enormen bedrohlichen Schmerz zu konfrontieren.
Auch das Gegenteil ist oft der Fall: Menschen die keinen Partner wirklich an sich herankommen lassen. In diesen Beziehungen sind Streite aus nichtigem Anlass an der Tagesordnung. Der Partner muss auf Anstand gehalten werden, um den Schmerz der nicht erhaltenen Liebe abzuwehren denn die jetzige Liebe erinnert mich an das, was ich als Kind nicht bekommen habe.
Links:
Eine tolle Diskussion mit Franz Ruppert zum Thema: “Trauma und Sexualität”.
hier findest du den nächsten Beitrag: Trauma Therapie
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